I3    Das Shapiro-Experiment


Ein Lichtstrahl, der nahe bei der Sonne vorbeiläuft, ändert seine Richtung nach I2 kaum. Dagegen müsste doch die Zeit für das Durchlaufen eines Bahndurchmessers erheblich anwachsen, da das Licht in Sonnennähe nach den Formeln auf p.113 in G5 langsamer vorankommt als es ohne Gravitationsfeld der Fall wäre. Die Aufgabe 5 von H7 illustriert davon nur die Wirkung der Raumkrümmung, einen praktisch gleich grossen Anteil trägt auch die Krümmung der Raumzeit bei. Es geht also wieder um einen Effekt, der gut verstanden werden kann unter dem Gesichtspunkt ‘Gravitation durch Brechung’.

Irwin Shapiro hat 1962 vorgeschlagen, diese Laufzeitverzögerung zu messen, indem man einige starke Radio-Signalpulse zur Venus schickt, wenn sie sich in Opposition zur Erde befindet, und dann die Zeit bis zum Eintreffen der (extrem schwachen) reflektierten Signale misst.

Als 1964 die 120-feet-Haystack-Antenne in Westford/USA vom Militär dem MIT überlassen wurde, begann Shapiro mit seinem Team die Durchführung des Experimentes zu planen. Dieses fand erstmals vom November 1966 bis zum August 1967 statt. “It would have been nice to prove Einstein wrong” sagte Shapiro später. Das war ihm nicht vergönnt, bis 2006 haben alle Experimente zur Laufzeitverzögerung die ART innerhalb ihrer Messgenauigkeit bestätigt.

Shapiro konnte die Ungenauigkeit seiner Messungen von anfänglich über 3% in den Folgejahren auf unter 1% senken. Neuere Versionen dieses Versuches arbeiten mit Transpondern auf Raumsonden. Diese empfangen das Signal von der Erde und senden es mit einer genau bekannten Verzögerung wieder scharf und verstärkt zur Erde zurück. Mit der Viking-Marssonde konnten so 1979 die Voraussagen der ART zur Laufzeitverzögerung im Gravitationsfeld der Sonne mit einer Genauigkeit von 0.1% bestätigt werden. 2003 wurde mit der Raumsonde Cassini eine Genauigkeit von 0.0012% erreicht !

Ein Beobachter im OFF würde in der nebenan dargestellten Situation Werte von a = -498.67 und b = 370.70 messen (wie in I2 rechnen wir alles in den Einheiten Lichtsekunden, es ist also  c0 = 1 und  α ≈  4.9261·10-6 ). Ohne Gravitation würde man eine Laufzeit von 2·(b-a) / c0  ≈  2·(370.70 + 498.67) / 1 ≈ 1738.74 Sekunden erwarten. Wir berechnen im folgenden die Differenz zu dieser Zeit, die entsteht, weil das Licht in der Nähe der Sonne etwas langsamer vorankommt.

 
Mit Gravitation beträgt die Laufzeit für beide Wege (mit c0 = 1 !)

 
Dieses Integral ist numerisch sehr instabil. Eine Umformung gemäss 1/(1-x) = (1+x)/(1-x2) hilft weiter, weil wir dann im Nenner den sehr kleinen Term x2 streichen können:
Dies ist die Laufzeit hin und zurück mit Gravitation. Die Differenz zum erwarteten Wert ohne Gravitation ist damit
Dieses Integral ist sowohl numerisch als auch über eine Stammfunktion gut berechenbar. Für r ist dabei die Wurzel aus  D2 + y2 einzusetzen. Für einen Laufweg, der direkt am Sonnenrand vorbei führt, ist  D ≈  2.33 , und mit a = -499  und  b = 371  liefert der Taschenrechner für die gesamte ‘Verspätung’ des Signals den Wert ∆T ≈ 213.3 µs ≈ 0.000’213’3 Sekunden - also einen leicht messbaren Wert.


Mithilfe einer Integraltafel oder eines Computer-Algebrasystems findet sich auch eine Stammfunktion:

Setzen wir hier die Integrationsgrenzen ein und verwenden wir die zusätzlichen Symbole

aV ~ Distanz Sonne-Venus  ,  yV ~ y-Koordinate der Venus ,  yV > 0
aE ~ Distanz Sonne-Erde     ,  yE ~ y-Koordinate der Erde   ,  yE < 0  in der gezeichneten Stellung
φV ~ Winkel   yAchse-Sonne-Venus
φE ~ Winkel   negative yAchse-Sonne-Erde

so erhalten wir den folgenden Ausdruck für die gesamte Laufzeitverzögerung, der auch für einen Strahlengang in grossem Abstand von der Sonne gute Werte liefert:

Die Formel stimmt laut dem englischen Wikipedia-Artikel vollständig überein mit derjenigen von Shapiro's Originalarbeit von 1964. Auch er hat sein Ergebnis in Schwarzschild-Koordinaten hergeleitet.
 
 

 

 

 

 

 

Die 120-feet-Radioantenne des MIT in Westford/USA, mit welcher das Shapiro-Experiment 1966/67 erstmals durchgeführt worden ist.


In der Oppositionsstellung sind die beiden Winkel φE und φV sehr klein und wir können für den Cosinus-Wert 1 einsetzen. Das liefert für diese spezielle Situation die einfachere Formel

Auch diese vereinfachte Formel liefert für  D =  2.33 (Sonnenrand), aE = 499  und  aV = 371 eine Laufzeitverzögerung von 213.3 Mikrosekunden.

Obige Rechnungen haben aber einige Schwächen, die nun diskutiert werden sollten.
Erstens folgt das Licht ja einer Geodäten und nicht einer Geraden. Der Ablenkungswinkel von etwa 1.74" ist zwar klein, aber der Lichtlaufweg könnte dadurch doch spürbar beeinflusst werden. Misner et al. schreiben in [27-1106], dass sich dieser Fehler erst in der zwölften Nachkommastelle zeigt. Wenn das stimmt können wir ihn getrost vergessen.
Zweitens haben wir den Laufzeitunterschied für einen Beobachter im OFF berechnet. Für die Uhren auf der Erde müssten wir nun drei Korrekturen anbringen wegen der Bahngeschwindigkeit der Erde auf ihrer Umlaufbahn um die Sonne und wegen der gravitativen Einflüsse von der Sonne und der Erde (siehe dazu auch die Aufgabe 13 in G6 !). Die Rechnung zeigt aber, dass diese Korrekturen erst die 8. Nachkommastelle beeinflussen ( der Faktor ist 0.999'999'984'5 ) und daher auch vernachlässigt werden können.
Die dritte Schwäche ist aber von Bedeutung: In welchen Koordinaten werden die Abstände von den Astronomieprogrammen überhaupt angegeben, welche dann in die Formeln eingesetzt werden ? Wir haben die Rechnung mit Schwarzschild-Koordinaten durchgeführt. Rechnet aber das Astronomieprogramm mit euklidischen Koordinaten in einer Newton'schen Welt, so sind alle Abstände kürzer als die entsprechenden Werte in Schwarzschild-Koordinaten. Wheeler gibt in [27-1106f] eine einfache Herleitung in PPN-Koordinaten, die fast zu derselben Formel führt wie oben, nur ohne die Euler'sche Zahl  e  im Nenner. Noch andere rechnen in isotropen Koordinaten und haben schliesslich das  e  im Zähler. Die einzusetzenden Distanzen sind daher in der Regel gar nicht so genau bekannt. Zudem gibt es weitere Faktoren, die das Ergebnis spürbar beeinflussen, wie etwa den Sonnenwind oder koronare Auswürfe.

Gehen wir daher zum Praxistest. Für die Venus-Opposition vom 25. Januar 1970 liefert mir mein Astronomieprogramm "Starry Night Pro" die Werte  aE ≈ 491 ,  aV ≈ 363  und  D ≈ 9.42. Setzt man das in unsere vereinfachte Formel ein, so erhält man als maximale Laufzeitverzögerung einen Wert von 157 Mikrosekunden. Lässt man mit Wheeler [27-1107] die Euler'sche Zahl e im Nenner der Formel weg so ergibt sich eine Verzögerung von 177 Mikrosekunden. Wheeler betont aber selber, dass unklar bleibt, wie man die Distanzen in seinen PPN-Koordinaten messen sollte. Tatsächlich wird ja sowieso immer nur eine Laufzeit gemessen und nie eine Verzögerung !
Diese Verzögerung errechnet man sich als Differenz zur gewöhnlichen Laufzeit, die man erwarten würde, wenn Venus und Erde sich brav auf ihrer Kepler-Ellipse bewegen würden. Daher muss man mit den Messungen schon lange vor der Opposition anfangen, damit man eine 'Null-Erwartung' festlegen kann. Man kann das auch so deuten, dass die Distanz zur Venus in der Oppositionsstellung scheinbar um  0.5 · c · 177µs ≈ 26.5 km zugenommen hat. Diese Differenz ist so klein, dass das verwendete Koordinatensystem eben von Bedeutung ist. Die resultierende Formel für die Laufzeitverzögerung ist möglicherweise nicht unabhängig vom zugrundegelegten Koordinatensystem.

 
Der Shapiro-Effekt ist auch deshalb interessant, weil er mit zunehmendem Abstand D von der Zentralmasse nur langsam abnimmt. Die Lichtablenkung ist gemäss der Formel in I2 proportional zu 1/D. Die Laufzeitverzögerung ist hingegen im wesentlichen proportional zu 1/ln(D), wie wir der Formel weiter oben entnehmen können. Im Abstand von 100 Sonnenradien sinkt der Wert der Lichtablenkung auf 1%, die Laufzeitverzögerung hat aber dort immer noch eine Stärke von 21% des maximalen Effekts am Sonnenrand. Man spricht daher auch von einem ‘long-range-effect’.