I2    Die Lichtablenkung im Gravitationsfeld der Sonne


Wir wollen nun dasjenige Experiment durchrechnen, dessen Ausgang Einstein 1919 so berühmt gemacht hat: Die Lichtablenkung am Sonnenrand. Die Wirkung auf die Öffentlichkeit respektive das Zeitungsgeschrei um dieses Resultat kann eigentlich nur vor dem Hintergrund der soeben beendeten Grosskatastrophe des Ersten Weltkrieges verstanden werden (siehe dazu [30-232ff] oder [37-191ff]). In H6 haben wir schon betont, dass der Ausgang dieses Experimentes für die ART und gegen die Newton’sche Theorie spricht, welche für den Ablenkwinkel nur den halben Wert der ART erwarten lässt.

Wir machen den folgenden Ansatz: Ein Lichtstrahl der Breite ∆x soll im Abstand D entlang der y-Richtung an der Sonne vorbeiziehen. Dabei kommt diejenige Seite des Strahls, welche auf der Innenbahn näher bei der Sonne liegt, nach unseren Formeln auf p.113 in G5 ein klein bisschen langsamer voran als die Aussenseite, weshalb die Wellenfront um einen kleinen Winkel ∆ß abkippt:

 

Die Summe all dieser kleinen Richtungsänderungen ∆ß werden wir dann von y = +∞  bis  y = -∞  aufintegrieren. Dabei setzen wir schon voraus, dass die gesamte Richtungsänderung klein ist. Im Prinzip ist das die Betrachtungsweise von ‘Gravitation durch Brechung’ !



1. Schritt

Wir bestimmen einen brauchbaren Ausdruck für die infinitesimale Richtungsänderung ∆ß :

Wir müssen das über die y-Achse integrieren. Wenn wir schreiben ‘dy = c0 · dt’ machen wir keinen Fehler, auch wenn der Lichtstrahl (aus dem OFF betrachtet) nicht ganz mit c0 vorankommt. Das hat eigentlich nur zur Folge, dass unsere Zeitscheiben dt nicht alle gleich dick sind. Damit können wir aber insgesamt schreiben

Wenn wir also die partielle Ableitung der Lichtgeschwindigkeit nach x hätten, dann könnten wir unser Integral aufstellen:

 

2. Schritt

Wir bestimmen die partielle Ableitung von c(r,∞,φ) nach x. Die Rechnung ist etwas mühsam:

 

3. Schritt

Wir berechnen das Integral numerisch:

Auf unserem Lichtweg am Sonnenrand vorbei ist ja  x = D = konst. = 2.33 Lichtsekunden. Statt von +∞ bis -∞ können Sie auch z.B. von 2000 bis -2000 Lichtsekunden integrieren (die Erde ist etwa 500 Lichtsekunden weit weg von der Sonne). Dann muss noch beachtet werden, dass auch α in diesen Einheiten eingesetzt werden muss:   α   =  G·M/c2 =  G’·M  ≈  4.9261·10-6 Lichtsekunden !
Lassen Sie den Taschenrechner TI-89 dieses bestimmte Integral berechnen, dann liefert er Ihnen das Ergebnis  8.4571·10-6 . Das ist die gesamte Ablenkung ß im Bogenmass. Rechnen wir noch in Bogensekunden um, so erhalten wir    8.4571·10-6 ·180·3600 / π ≈ 1.74 Bogensekunden. Wenn wir Mathematica® mit der doppelten Stellenzahl rechnen lassen erhalten wir praktisch denselben Wert, nämlich  1.7518 Bogensekunden.

In [26-143] findet man für unser Integral die Stammfunktion   ( y/r + (y/r)3 ) / D . Dass das stimmt können Sie durch Ableiten prüfen! Der Limes von  y/r  für  y –> ∞  ist aber einfach 1. Damit erhält man für die gesamte Ablenkung im Bogenmass die einfache Formel

 

Welche experimentellen Daten liegen nun vor, um diese Formel zu testen?

[26-145] präsentiert die Auswertungen von Sternfeldfotographien bei Sonnenfinsternissen bis 1952. Die Werte liegen zwischen 1.61” und 2.01”, bei Unsicherheiten von 0.10 bis 0.45” (dabei habe ich die sogenannten ‘Ausreisser’ weggelassen). Das genügt zwar, um der ART den Vorzug zu geben gegenüber der Newton’schen Theorie, die Unsicherheit ist aber grösser als 10%. Im ‘Telefonbuch’ [27-1105] findet man Daten von Messungen mit Radioteleskopen. Die Sonne wandert - von der Erde aus gesehen - jedes Jahr am 8. Oktober vor dem Quasar 3C279 vorbei. In dessen Nähe liegt auch noch der Quasar 3C273, was eine präzise Messung des Winkels zwischen diesen beiden Objekten gestattet. 1970 konnte so die ART auf dem 5%-Niveau bestätigt werden. Neuere Messungen mit VLBI (very long baseline interferometry) konnten 1995 die ART mit einer Genauigkeit von 0.9996 ± 0.0017, also auf 1.7 Promille genau bestätigen. 1999 wurde eine Analyse von 2 Mio VLBI-Messungen publiziert, welche auf eine Genauigkeit von 0.99992 ± 0.00014 kommen will. Diese Angaben sind der folgenden Website am 26. Dezember 2006 entnommen worden:
http://relativity.livingreviews.org. Hier hat sich sich vor allem Clifford M. Will sehr verdient gemacht, diese Seite lieferte lange die umfangreichsten und aktuellsten Informationen zur laufenden Forschung und den experimentellen Prüfungen im Bereich ART. Der Link ist aber nicht mehr aktiv, die Inhalte sind neu an folgender Stelle zu finden: https://link.springer.com/article/10.12942/lrr-2001-4   oder hier als pdf .

Eine andere Bestätigung dieser Vorhersage der ART kommt von den Daten des ESO-Satelliten Hipparcos . Dieser hatte die Aufgabe, die Position von 118’000 Sternen (bis zur Grössenklasse 12.5) hochgenau zu vermessen, damit sie nachher als Referenzsterne gebraucht werden können. Diese Aufgabe hat er (nach einem sehr unglücklichen Start, siehe Wikipedia) mit Bravour gelöst. Die Winkelauflösung der Positionsmessgeräte betrug dabei 0.001 Bogensekunden. Damit konnte er über den ganzen Himmel hinweg die Prognosen der ART mit einer Genauigkeit von etwa 0.3 % bestätigen. Der Effekt der Lichtablenkung ist nämlich schon messbar, wenn das Licht im Abstand einer Astronomischen Einheit, also von 150 Mio km, an der Sonne vorbei zieht! Wenn wir von der Erde aus in y-Richtung, also in eine Richtung blicken, die senkrecht steht auf dem Verbindungsstrahl Erde-Sonne, dann hat der Lichtstrahl genau die Hälfte der gesamten Ablenkung ß schon erlitten.  ß = 2·RS/D  hat für D = 1 AE den Wert  0.0081 Bogensekunden, und die Hälfte davon sind immer noch 4 Milli-Bogensekunden, also das Vierfache der Genauigkeit des Satelliten Hipparcos!

 


Oswald Huber, NZZ am Sonntag 12. Nov. 2006,  © Oswald Huber & NZZ