G5    Verschiedene Lichtgeschwindigkeiten ?!


Wer Längen und Zeiten messen kann, der kann auch Geschwindigkeiten messen. Kümmern wir uns also darum, wie die entsprechenden Messwerte eines im Abstand r vom Zentrum unserer kugelförmigen Masse ruhenden Beobachters für einen Beobachter im OFF zu transformieren sind.

Es ist klar, dass wir wie in der SRT unterscheiden müssen, ob eine Geschwindigkeit in x-Richtung, also längs der Feldlinien, betrachtet wird oder eine in y-Richtung, d.h. senkrecht zu den Feldlinien. Die gemessenen Zeitintervalle transformieren sich ja richtungsunabhängig, während die Transformation der Laufstrecke richtungsabhängig ist. Zur Notation:  vy(r;r) bezeichne die Geschwindigkeit eines Objekts, welches sich im Abstand r vom Zentrum von M in y-Richtung bewegt, wie sie in einem am Ort r ruhenden Labor gemessen wird. vy(r;∞) soll die Geschwindigkeit bezeichnen, die ein Beobachter im OFF an demselben Objekt bei derselben Bewegung misst. Wir rechnen:

vy(r;r) = ∆y(r)/∆t(r) = ∆y(∞)/(∆t(∞)·√(1 - 2·α/r)) = (∆y(∞)/∆t(∞)) / √(1 - 2·α/r )  =  vy(r;∞) / √(1 - 2·α/r)
also   vy(r;∞)  =  vy(r;r) · √(1 - 2·α/r)  =  vy(r;r) · √(1 - RS/r)  =  vy(r;r) · √(1 + 2· Φ(r) / c2
Es ist also genau wie in der SRT : Eine von Rot lokal gemessene Quergeschwindigkeit uy’ präsentiert sich Schwarz um den Wurzelterm verlangsamt:

uy = uy’·√       (siehe p.60 in D5)

Benutzen wir die Näherungen von p.107 für  √(1 - 2·α/r), so erhalten wir den einfacheren Ausdruck
vy(r;∞)  ≈  vy(r;r) · (1 - α/r)  =  vy(r;r) · (1 + Φ(r) / c2)

Dieselbe Rechnung für Geschwindigkeiten in x-Richtung liefert ein anderes Resultat:

vx(r;r) = ∆x(r)/∆t(r) = (∆x(∞)/√(1-RS/r)) / (∆t(∞)·√(1-RS/r)) = (∆y(∞)/∆t(∞)) / (1-RS/r) = vx(r;∞) / (1-RS/r)
also   vx(r;∞)  =  vx(r;r)·(1 - RS/r)  =  vx(r;r)·(1 - 2·α/r)  =  vx(r;r)·(1 + 2·Φ(r)/c2)
Hier tritt unser Wurzelfaktor im Quadrat auf und die Wurzel entfällt damit! Deshalb brauchen wir in diesem Fall auch nicht mit Näherungen zu arbeiten.

Elementare, aber etwas umständliche Rechnungen [26-135f] liefern eine Näherungsformel, welche für alle Bewegungsrichtungen taugt. Darin bezeichnet δ den Winkel zwischen v und den Feldlinien:
v(r;∞;δ)  ≈  v(r;r;δ) · (1 - α·(1+cos2(δ)) / r)
Der Term  1+cos2(δ)  ist ja gleich eins, wenn δ = 90º, also wenn die Bewegung in y-Richtung erfolgt, und er ist gleich 2 für δ = 0º und δ = 180º, also wenn es sich um eine Geschwindigkeit in x-Richung handelt. Wir hätten diese Formel eigentlich auch erraten können ...


Aus der Ferne betrachtet verlangsamen sich also Geschwindigkeiten in der Nähe von grossen Massen. Das ist ja weiters nicht verwunderlich, wenn auch der Zeitablauf selber verlangsamt erscheint. Nun kommt aber der Hammer: Das gilt natürlich auch für die Lichtgeschwindigkeit !!

Messen wir in einem Labor am Ort r die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum in irgendeiner Richtung, so werden wir den Standardwert c(r;r;δ) = c0 ≈ 3·108 m/s erhalten. Diesen Wert haben wir aber (aus der Sicht eines Beobachters im OFF) mit unseren evtl. verkürzten Massstäben und sicher verlangsamten Uhren erhalten. Für einen Beobachter aus dem OFF muss sich also das Licht am Ort r im Gravitationsfeld der Masse M mit der langsameren und richtungsabhängigen Geschwindigkeit
c(r;∞;δ)  ≈  c(r;r;δ) · (1 - α·(1+cos2(δ)) / r) =  c0 · (1 - α·(1+cos2(δ)) / r)
ausbreiten ! Das heisst, dass für einen Beobachter im OFF die Lichtgeschwindigkeit c0 nur noch eine Obergrenze für den gravitationsfreien Raum darstellt. In der Nähe von Massen kommt das Licht (aus dem OFF beobachtet) aber langsamer voran. Derweil messen lokale Beobachter vor Ort immer den bekannten Wert c0 . Lokal ist die Welt überall Lorentz’sch ...

Halten wir fest, mit welcher Geschwindigkeit sich das Licht für einen Beobachter im OFF in der Nähe von grossen Massen fortpflanzt:


Gravitation wirkt also (aus der Ferne beobachtet) auf das Licht wie ein Brechungsindex ! Je stärker das Feld ist, desto langsamer kommt das Licht voran. Der Brechungsindex hängt dabei allerdings nicht nur vom Ort r, sondern auch noch von der Richtung ∂ ab. Ändert sich aber der Brechungsindex, dann wird sich das Licht nicht mehr gradlinig ausbreiten - es sei denn, dass der Lichtstrahl genau entlang einer Feldlinie zum Zentrum von M läuft. In allen anderen Fällen muss das Phänomen der Brechung auftreten. Wir sind damit vorbereitet auf die Berechnung desjenigen Experimentes, dessen Ausgang Einstein über Nacht zu einer Berühmtheit ersten Ranges gemacht hat: Der Lichtablenkung am Sonnenrand, fotografierbar nur bei einer Sonnenfinsternis (I2).
 
Tatsächlich transformieren sich aber alle Geschwindigkeiten gemäss den eingerahmten Formeln, man muss dabei nur c0 durch die lokal gemessene Geschwindigkeit v(r;r) ersetzen. Das bedeutet, dass derjenige Viertel eines Satelliten, welcher sich am nächsten bei der Erde befindet, etwas langsamer vorankommt als derjenige, der ganz aussen liegt! Wenn aber in einer Viererreihe die Leute ganz rechts immer ein bisschen schneller gehen als diejenigen ganz links, dann wird sich die Richtung, in der die Truppe marschiert, allmählich nach links drehen. Statt dass sich der frei fallende (oder fliegende) Satellit ‘geradeaus’ bewegt, läuft er daher in einer Bahn um die Erde ! Genau so erklärt Einstein die Wirkung der Gravitation - auf Kräfte kann er ganz verzichten. Die ‘Verzerrungen’ der Metrik des Raumes und der Raumzeit bewirken von selber, dass Trägheitsbahnen gerade so verlaufen, wie wir es von der Newtonschen Mechanik her kennen.

Wenn wir alles nur aus der Warte des Beobachters im OFF beschreiben, dann können wir ganz auf ‘geschrumpfte Massstäbe’ und ‘verlangsamte Uhren’ verzichten und alle Phänomene nur aus dieser Brechung in der Nähe von Massen ableiten. Tatsächlich sitzen wir aber mitten in solchen Gravitationsfeldern drin, und unsere Atomuhren zeigen die von Einstein geforderten Effekte heute direkt (I5, I6 und I7). Es wäre ohnehin etwas elitär oder abgehoben, sich nur aus dem OFF mit der Welt zu befassen ...
Epstein widmet dem Thema “Gravitation durch Brechung” in [10-195ff] einen vierseitigen Einschub, dessen Lektüre der geneigten Leserin empfohlen sei. Eine sehr schöne Illustration dazu finden Sie am Ende des nächsten Abschnittes.


Damit können wir vielleicht auch schon die wenigen Worte verstehen, in welche Misner, Thorne und Wheeler die ganze Allgemeine Relativitätstheorie auf unübertreffliche Art zusammenfassen: 

“Matter tells space how to curve, and space tells matter how to move.”   ‘Telefonbuch’ [27-0005]

Ich versuche eine Übersetzung:
“Die Materie sagt dem Raum, wie er sich zu krümmen hat, und der Raum sagt der Materie, wie sie zu fallen hat.”

Mit ’space’ respektive ‘Raum’ ist dabei natürlich die 4d-Raumzeit gemeint ...