G1    Eine seltsame experimentelle Tatsache


Was ist schwerer - ein Kilogramm Blei oder ein Kilogramm Federn? [28-195f] Die Antwort auf diese vermeintliche Scherzfrage ist keineswegs selbstverständlich. Newton war vielleicht der erste, der sich darüber gewundert hat, dass sich die träge und die schwere Masse experimentell nicht unterscheiden lassen (siehe Zitat p.7 in A1). In einer Serie von Pendelversuchen ist er der Sache eigenhändig nachgegangen und hat festgestellt, dass die beiden Grössen einander proportional sind. Es ist aber nur eine Frage der Definition der Einheiten für die Masse und die Kraft, um aus der Proportionalität eine Gleichheit zu machen.

Im Abschnitt F1 haben wir auf p.84 fast beiläufig bemerkt, dass wir es im Prinzip sogar mit drei verschiedenen Konzepten von ‘Masse’ zu tun haben:

  1. Masse als ‘träge Masse’, welche einer Impulsänderung einen Widerstand entgegensetzt
  2. Masse als ‘schwere Masse’, auf die in einem Gravitationsfeld eine Kraft wirkt
  3. Masse als ‘gravitierende Masse’, welche selber ein Gravitationsfeld erzeugt

Dass die ‘felderzeugende’ Masse mit der ‘felderleidenden’ gleichgesetzt werden kann hat eigentlich nie Aufsehen erregt. Dass aber die träge und die schwere Masse identisch sein sollen hat keine logische Grundlage und wurde deshalb immer wieder experimentell getestet. Die Genauigkeit, die Newton mit seinen Pendelversuchen erzielte, lag etwa bei 1:1000. Wohl angestossen durch die Überlegungen von Ernst Mach hat der ungarische Baron Loránd von Eötvös ab 1899 Präzisionsexperimente zu dieser Frage ausgeführt. Er konnte dabei die Genauigkeit von Newton um viele Zehnerpotenzen übertreffen. Eine weitere deutliche Steigerung gelang dann 1964 Robert H. Dicke und seinem Team. Wegen der fundamentalen Bedeutung dieser Experimente sollen die Angaben dazu aus dem ‘Telefonbuch’ [27-1050ff (!)] in einer kleinen Tabelle zusammengestellt werden. Ich nehme auch noch den Fallturm in Bremen hinzu, da dort erstmals nicht mehr Torsionskräfte gemessen werden, sondern direkt geprüft wird, ob wirklich alle Körper gleich schnell fallen. Seit 2005 kann dabei dank der neuen Katapultanlage eine Freifallzeit von etwa 9.5 Sekunden erzielt werden. Der zugehörige Weblink ist  www.zarm.uni-bremen.de/de.html .

mwer wann wie genau
mNewton ~ 1680 1 : 103
mEötvös 1889 - 1922 5 : 109
mRenner 1935 7 : 1010
mDicke et al. 1964 1 : 1011
mBraginsky and Panov 1971 1 : 1012
mDrop Tower Bremen since 1990 1 : 1012
mMICROSCOPE satellite 2017 1 : 1015
 

Misner et al. nennen dieses Faktum in [27] “the uniqueness of free fall” oder “the weak equivalence principle”. Diese experimentelle Tatsache steht am Anfang jeder Theorie der Gravitation. Alle (kleinen) Testkörper fallen im Gravitationsfeld eines grossen Körpers genau gleich schnell, unabhängig von ihrer Zusammensetzung und ihrer Masse. Warum das so ist konnte Newton nicht beantworten und er wollte auch nicht darüber spekulieren (‘hypotheses non fingo’). Eine gute Theorie der Gravitation muss aber auf diese Frage eine Antwort geben.

Ab 1906 hat Einstein an diesem Problem gearbeitet - und 1908 hat er erkannt, dass er es auf seine typische Art wohl am besten lösen kann.

 

http://www.einsteinjahr-bremen.de/FallturmBremen_Einsteinv1_300605.jpg
(November 2007, der Link ist nicht mehr aktiv)