B1     Primo: Gleichzeitigkeit ist relativ


Schon viel Tiefsinniges wurde über das Wesen der ‘Zeit’ geschrieben. Die Erkenntnis, die für Einstein den Durchbruch bedeutet hat, tönt zuallererst aber sehr banal:

Zeit ist das, was man auf einer guten Uhr am Ort des Geschehens abliest.

Wirklich tiefe Einsichten sind nicht immer auf den ersten Blick als solche erkenntlich ...

Zuerst wollen wir uns davon überzeugen dass es möglich ist, mehrere gleichartige Uhren, die in einem Inertialsystem an verschiedenen Orten ruhen sollen, zu synchronisieren. Meist wird dazu die folgende Methode vorgeschlagen: Zwei Uhren befinden sich in A respektive B. Man löse in der Mitte der Strecke AB einen Blitz aus, beide Uhren werden beim Eintreffen des Blitzes auf 0000 gestellt und gestartet.
Aber: Wie synchronisiert man jetzt eine dritte Uhr C mit derjenigen in A, ohne dass die Synchronisation von A und B verloren geht? Und ist das Finden der Streckenmitte nicht selber schon ein Problem? Dieses ‘Standard-Verfahren’ ist eigentlich völlig unbrauchbar.

Es ist aber durchaus möglich, beliebig viele Uhren mit einer Uhr in A zu synchronisieren: Die ‘Mutteruhr’ in A sendet zu einem beliebigen, aber bekannten Zeitpunkt t0 einen Blitz aus. Sobald dieser bei der Uhr B eintrifft, wird er erstens reflektiert, zweitens stellt er die Uhr in B auf 0000 und drittens wird die Uhr in B gestartet. Die Uhr A hält den Zeitpunkt t1 fest, wann der reflektierte Blitz aus B wieder in A eintrifft. Man rechnet die Laufzeit  (t1 - t0)/2  für das Licht von A nach B aus, notiert den Wert  t0 + (t1 - t0)/2  auf einen Zettel und schickt diesen per Schneckenpost nach B. Die (laufende) Uhr in B wird dann um diesen Wert vorgestellt. Die Mitte von AB braucht man dafür gar nicht, zudem erhält man nebenbei noch den Abstand der beiden Uhren.

Hans Reichenbach hat in verschiedenen Publikationen ab 1920 darauf hingewiesen, dass dieser Definition implizit eine weitere Annahme zugrunde liegt, nämlich diejenige der Isotropie des Raumes. Insbesondere soll die Lichtgeschwindigkeit in allen Raumrichtungen gleich gross sein. Das Messen der Einweg-Lichtgeschwindigkeit setzt eben schon synchronisierte distante Uhren voraus, weshalb sich die Definition der Synchronisierung von distanten Uhren und das Messen der Einweg-Lichtgeschwindigkeit zirkulär aufeinander beziehen. Bei der Berechnung der Laufzeit für das Licht von A nach B mit (t1 - t0)/2  haben wir vorhin stillschweigend angenommen, dass das Licht für den Hinweg gleich viel Zeit braucht wie für den Rückweg! In dieser Annahme hat sich das Postulat der Isotropie versteckt. Diese Zusammenhänge sind im Buch "Concepts of Simultaneity" von Max Jammer (John Hopkins University Press 2006) sehr klar dargestellt. Auf p.218 finden sich dort zwei einfache Axiome, welchen ein Satz von Uhren genügen muss, damit er in unserem Sinne synchronisiert werden kann:

  1. Sendet eine Uhr A im Abstand ∆tA zwei Lichtsignale aus, so muss jede weitere Uhr B diese im zeitlichen Abstand ∆tB empfangen mit  ∆tB = ∆tA

  2. In jedem Dreieck ABC muss die Laufzeit des Lichtes von A über B und C zurück nach A dieselbe sein wie diejenige von A über C und B zurück nach A

Die erste Forderung muss sicher erfüllt sein, wenn synchronisierte Uhren auch synchronisiert bleiben sollen. Sie ist offensichtlich nur von Uhren erfüllbar, die relativ zueinander ruhen! Die zweite Forderung (sie wird auch 'round trip axiom' genannt) garantiert, dass die Lichtgeschwindigkeit richtungsunabhängig ist. Die beiden Axiome zusammen sind notwendig und hinreichend dafür, dass ein Satz von Uhren synchronisiert werden kann.

Da wir das Postulat der Isotropie des Raumes in B3 ohnehin benötigen, soll es schon an dieser Stelle in die SRT eingeführt werden. Seine operationelle Formulierung findet es also im 'round trip axiom'.

In einem Inertialsystem kann man also an beliebigen Orten Uhren haben, die alle im obigen Sinne synchronisiert sind. Den Zeitpunkt eines Ereignisses messen heisst dann, den Uhrenstand auf einer solchen synchronisierten Uhr am Ort des Geschehens abzulesen. Damit gelangt man zu einer hardwaremässigen Vorstellung eines Inertialsystems, wie sie in [11-37] dargestellt ist:

  

 Was sieht man in diesem Gerüst von Uhren auf dem Zifferblatt einer weit entfernten Uhr ??

Es zeigt sich, dass bei allen physikalischen Begriffen die drei Teile Definition, Masseinheit und Messmethode nie völlig zu trennen sind. Der Beitrag von Einstein zur Entwicklung der SRT ist eigentlich die Einsicht, dass dieser operationelle Zugang alle Schwierigkeiten ausräumt.


In einem Inertialsystem können wir also mit einer Zeit auskommen. Wir werden daher von der Zeit t in einem Inertialsystem sprechen dürfen. Verschiedene Inertialsysteme haben aber in der Regel verschiedene Chronologien für Ereignisse. Die Darstellung von Epstein [10-50ff] zeigt das sehr schön. Er betrachtet dazu eine interstellare Patroullie von drei Raumschiffen, die in konstantem Abstand hintereinander durch den Raum treiben:

 Es gibt ein Inertialsystem, in welchem die drei Raumschiffe ruhen. Ein Funkruf des Flaggschiffs erreicht in diesem Inertialsystem die anderen beiden Raumschiffe gleichzeitig (Movie-Streifen links, von unten nach oben zu lesen). Für einen Betrachter in einem Inertialsystem, in welchem sich diese Flotte bewegt, erreicht dagegen der Funkspruch das vorausfliegende Raumschiff später als das nachfolgende (Movie-Streifen rechts)! Dies ist eine unmittelbare Folge davon, dass sich der Funkspruch in jedem Inertialsystem in alle Richtungen mit der konstanten Geschwindigkeit c ausbreitet.
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Der rechte Streifen ist allerdings quantitativ nicht ganz korrekt gezeichnet. c scheint hier etwas grösser zu sein als links, und vorallem bewegt sich die Flotte nicht gleichförmig, was man mit einem Lineal leicht prüfen kann.

 

Aus dem Postulat, dass c in jedem Koordinatensystem denselben konstanten Wert habe, dass sich Licht- oder Funksignale in jedem Inertialsystem mit derselben Geschwindigkeit in alle Raumrichtungen ausbreiten sollen, folgt also sofort, dass es nur innerhalb eines Inertialsystems Sinn macht zu sagen, dass zwei Ereignisse gleichzeitig stattfinden. Im Buch “La science et l’hypothèse” schreibt Poincaré schon 1902  :

“Es gibt keine absolute Zeit; wenn man sagt, dass zwei Zeiten gleich sind, so ist das eine Behauptung, welche an sich keinen Sinn hat und welche einen solchen nur durch Übereinkommen erhalten kann. Wir haben nicht nur keinerlei Anschauung von der Gleichheit zweier Zeiten, sondern wir haben nicht einmal diejenige von der Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse, welche auf verschiedenen Schauplätzen vor sich gehen.”   [07-133]


Einstein und seine Freunde Solovine und Habicht haben dieses Buch von Poincaré in der “Akademie Olympia” sorgfältig studiert. Mit seinen operationellen Definitionen hat Einstein die “Übereinkommen” analysiert, die es erlauben, innerhalb eines Inertialsystems von Gleichzeitigkeit zu sprechen. Ebenso klar zeigt er dabei auch, dass Uhren, die im einen System synchronisiert sind, in einem dazu bewegten System nicht synchron laufen. Auch der Betrag der Desynchronisation erhält einen numerisch eindeutigen Wert. Diesen quantitativen Aspekt müssen wir auf  B6 verschieben.

 

 

 Die Mitglieder der "Akademie Olympia":
Conrad Habicht, Maurice Solovine und Albert Einstein um 1903