D2    Herleitung der Lorentztransformationen aus dem Epsteindiagramm


Wenn Schwarz und Rot die Messwerte für Ort und Zeit, die sie einem Ereignis zuordnen, miteinander vergleichen wollen, setzt das voraus, dass sie sich schon einmal begegnet sind und beide bei dieser Begegnung in  x = 0 = x'  die 'Mutteruhren' auf  t = 0 = t'  gestellt und dann die übrigen Uhren innerhalb ihres Systems mit der Mutteruhr synchronisiert haben. Ein Ereignis kommt also sozusagen nie allein - es ist immer ein zweiter Kontakt von Rot und Schwarz. Andernfalls sind die Messwerte von Rot und Schwarz beliebig, es gibt gar keine Möglichkeit, sie aufeinander zu beziehen! Diese Vorbemerkung gilt übrigens für alle Raumzeit-Diagramme, nicht nur für diejenigen von Epstein.

Betrachten wir also zwei Koordinatensysteme nach dieser Begegnung in O, so wie sie im vorangehenden Abschnitt genau beschrieben worden sind. Nun bewege sich irgendeine Rote Uhr an einer bestimmte Stelle von Schwarz vorbei, und sie soll dabei die Koordinaten (t’,x’,y’,z’) dieser Begegnung festhalten. Welche Koordinaten (t,x,y,z) wird Schwarz dieser Begegnung zuschreiben ? Wie können generell solche Ereignis-Koordinaten ineinander umgerechnet werden, wenn man die relativistischen Effekte der Zeitdilatation, der Längenkontraktion und der Desynchronisation berücksichtigt, die wir im Abschnitt B aus Einsteins Grundpostulaten hergeleitet haben?

Diese Frage wird durch die Lorentz-Transformationen beantwortet, von denen in A3 und A4 bereits die Rede war. Diese Lorentz-Transformationen leiten wir in diesem Abschnitt aus den Epstein-Diagrammen her. Für Skeptiker folgt im nächsten Abschnitt noch eine Herleitung allein aus den drei Grundphänomenen und ihrer quantitativen Beschreibung nach Abschnitt B.

Zuerst halten wir fest, dass weiterhin die bequemen Gleichungen  y = y’  und  z = z’  gelten. Nach B3 sind Distanzen senkrecht zur Relativgeschwindigkeit der beiden Systeme, also senkrecht zu x und x’, für Schwarz und Rot gleich gross. Wir brauchen uns daher nur noch um die Zeiten und die Ortskoordinaten in Richtung von v zu kümmern. Und genau diese Werte werden im Epstein-Diagramm ja schön dargestellt. Starten wir also mit einem fast ‘leeren’ Epstein-Diagramm:

 

Wir markieren einen beliebigen Punkt E  in der Raumzeit. Es bestehen keine Zweifel darüber, wo E für Schwarz und Rot liegt: Wir müssen E nur auf die x-Achse respektive die x’-Achse projizieren. Wir erhalten die Punkte C und D (folgende Figur), und es gilt

(1)       x = OC      und      x’ = OD

Zudem haben wir immer noch

(2)       y = y’     und     z = z’

Diese Projektionen liefern uns zusätzlich den Hilfspunkt Q, den wir später noch brauchen. Wir haben damit das folgenden Bild vor uns:

 


E definiert also das Ereignis "die Rote Uhr in x'  befindet sich am Ort x von Schwarz". Denn nur mit der vor Ort anwesenden Uhr kann Rot den Zeitpunkt  t'  dieses Ereignisses messen! Nun zeichnen wir noch die Projektionen auf die beiden Zeitachsen ein und erhalten die Punkte F und B :

 

Für Rot sind die Uhren in O und D (oder, etwas später, in B und E) synchronisiert. Schwarz sieht das anders. Was die lokale rote Uhr am Ort D für das Ereignis E anzeigt liest Schwarz einfach auf seiner Zeitachse ab: Es ist

(3)       t’ = OF = CE

Damit sind die beiden Effekte Zeitdilatation und Desynchronisation berücksichtigt!

Jetzt fehlt uns im Diagramm noch die Zeit  t  von Schwarz. Mit welcher Uhr misst Schwarz den Vorbeiflug der Roten Uhr am Ort x ? Natürlich mit derjenigen, die sich am Ort x befindet, also mit derjenigen, die sich bei der Begegnung der Mutteruhren in  O  im Punkt  C  befand. Wo ist aber diese Uhr, wenn sich die Rote Uhr von  D  nach  E  bewegt hat ? Nach dem Dogma von Epstein bewegen sich zwischen zwei Ereignissen alle immer gleich weit durch die Raumzeit. Die Schwarze Uhr am Ort  x  befindet sich dann im Punkt  G, für den gilt  
CG = OA = OB = DE :


Zum Ereignis "die Rote Uhr, die sich in ihrem System am Ort x' befindet, fliegt am Ort x von Schwarz vorbei" gehören also im Epstein-Diagramm die beiden Punkte  E  und  G ! Dies ist gerade für diejenigen oft etwas verwirrend, die sich mit anderen Typen von Raumzeit-Diagrammen gut auskennen, bei denen zu einem Ereignis immer ein einziger Punkt im Diagramm gehört.

Schwarz schreibt diesem Ereignis somit die folgende Zeitkoordinate zu:

(4)       t = CG = OA = OB = DE

Wir haben immer noch die Aufgabe, zu gegebenen Werten von (t,x,y,z) die zugehörigen Werte (t’,x’,y’,z’) zu finden und umgekehrt. Wie das mit y und z läuft wissen wir bereits. Wir studieren nun, wie man zu (t’,x’) die Werte (t,x) erhält. Die umgekehrten Transformationen kann man daraus als kleine Algebraübung ableiten.
Wir setzen alle raumzeitlichen Strecken als Längen ein und müssen daher die Zeiten mit c multiplizieren. Es gilt:

t·c = OA = OB = DE = DQ + QE = OD·tan(φ) + CE/cos(φ) = x’·sin(φ)/cos(φ) + t’·c/cos(φ)

Wenn wir uns noch an die Bedeutung von sin(φ) und cos(φ) erinnern, sind wir schon fertig:

t·c   =   x’·(v/c) / √  + t’·c / √  =  ( t’·c + x’·v/c ) / √

Dividieren wir noch durch  c  und schreiben das Ganze etwas konventioneller, so erhalten wir

Die beiden Summanden im Zähler repräsentieren (zusammen mit dem Nenner) schön die beiden Effekte der Zeitdilatation und der Desynchronisation. Für  x’ = 0  hätten wir nur den ersten Effekt, für  t’ = 0  zeigt sich vor allem der zweite Effekt.


Ebenso leicht können wir herleiten, wie man den zu  (t’,x’)  gehörigen Wert von  x  erhält:

x = OC = OQ + QC = OD/cos(φ) + EC·tan(φ) = x’/cos(φ) + t’·c·sin(φ)/cos(φ)   , also

x = x’ / √  + (t’·c·v/c) / √  = ( x’ + v·t’ ) / √

Hier ist der Unterschied zur entsprechenden Galilei-Transformation kleiner, es zeigt sich sozusagen nur die Längenkontraktion.

Wir stellen die zweimal vier Transformationsgleichungen noch in einer Tabelle zusammen:

Die hier beschriebenen Transformationen  (t,x,y,z) <---> (t’,x’,y’,z’)  müssen einander gegenseitig rückgängig machen, wenn sie hintereinander ausgeführt werden. Die entsprechende Kontrollrechnung sei dem Leser als Uebung empfohlen.


Der Autor dieses Büchleins möchte ja vor allem das hohe Lied auf die Epstein-Diagramme singen. In den USA nennt man solche Typen ‘Evangelisten’. Auf diese hier erstmals gezeigte Herleitung der Lorentz-Transformationen aus einem Epstein-Diagramm bin ich als Epstein-Evangelist schon ein bisschen stolz ...

Für Skeptiker oder Unverbesserliche folgt im nächsten Abschnitt eine Herleitung dieser Transformationen ganz ohne Epstein-Diagramme, allein aus den Ergebnissen von Abschnitt B.