G4    Uhren und Massstäbe im Schwarzschild-Feld


In unserem Sinne schwache Gravitationsfelder werden oft auch Schwarzschild-Felder genannt zu Ehren des deutschen Physikers und Astronomen Karl Schwarzschild (1873-1916). Dieser beschäftigte sich bereits um die Jahrhundertwende mit der Frage, ob der physikalische Raum der Astronomie wirklich  euklidisch sei oder nicht, und schon 1913 begann er nach der von Einstein vorhergesagten Rotverschiebung von Spektrallinien im Spektrum der Sonne zu suchen. Wenige Wochen nach der Publikation von Einsteins Gleichungen präsentierte er als erster eine exakte Lösung derselben, und einige Wochen später reichte er bereits eine zweite nach.
Diese Arbeiten verfasste er während seines Kriegsdienstes an der Ostfront. Dort zog er sich auch eine Hautkrankheit zu, an der er noch 1916 starb.


Karl Schwarzschild (1873-1916)

Lassen wir also wieder unser kleines Labor genau wie im letzten Abschnitt aus dem ‘OFF’ einer kugelförmigen Masse entgegenfallen. Wir überlegen uns, wie sich die Messwerte eines Beobachters in diesem Labor zu denjenigen eines unbewegten Beobachters im OFF verhalten, also zu denjenigen eines von M (und allen anderen grossen Massen) sehr weit entfernten und relativ zu M ruhenden Beobachters.

Nach dem Äquivalenzprinzip ist das frei fallende Labor in jedem Moment ein gravitationsfreies Inertialsystem im Sinne der SRT. Damit wissen wir aber schon, in welcher Beziehung die Messungen im fallenden Labor im Abstand r vom Zentrum von M zu denjenigen des Beobachters im OFF stehen:
r  legt ja zusammen mit  α  (oder RS oder Φ ) den Wert unseres Wurzelausdrucks fest:

∆t(r)   = ∆t(∞) · √  = ∆t(∞) · √( 1 - RS / r )   ≈  ∆t(∞) · ( 1 - α / r )  =  ∆t(∞) · ( 1 + Φ(r) / c2 )
∆x(r)  = ∆x(∞) / √  = ∆x(∞) / √( 1 - RS / r )  ≈  ∆x(∞) / ( 1 - α / r )  =   ∆x(∞) / ( 1 + Φ(r) / c2 )   
∆y(r)  = ∆y(∞)        (keine seitliche Kontraktion)
∆z(r)  = ∆z(∞)        (keine seitliche Kontraktion)

Diese Ergebnisse erhalten wir aus der SRT und unserer vierten Formulierung des Äquivalenzprinzips. Mit dem freien Fall haben wir die Gravitation vollständig verschwinden lassen, wir haben sie für den Beobachter im OFF durch eine in jedem Moment gerade angepasste Beschleunigung ersetzt. Die Insassen im frei fallenden Labor befinden sich also die ganze Zeit in einem Inertialsystem. Sie müssen also z.B. im Spektrum des angeregten Wasserstoffs immer dieselben Wellenlängen messen. Nun sollen sie mit der Momentangeschwindigkeit  v = √( 2·G·M / r ) am Ort r vorbeifliegen. Dabei sollen sie die Frequenzen im Spektrum von dort ruhendem, leuchtendem Wasserstoffgas messen. Nach Berücksichtigung des Dopplereffektes (die Laborinsassen kennen die SRT) müssen sie in ihrem Laborsystem, da sie sich ja in einem Inertialsystem befinden, die üblichen bekannten Werte erhalten. Am Ort r im Gravitationsfeld ruhendes Wasserstoffgas strahlt also mit Frequenzen, die mit den aus dem OFF gesehen zu langsam laufenden Uhren des frei fallenden Labors gerade richtig bestimmt werden !! Das bedeutet aber, dass ruhende Uhren oder andere schwingungsfähige Systeme im Abstand r vom Gravitationszentrum genau um denselben Faktor langsamer gehen (im Vergleich mit solchen im OFF) wie diejenigen in unserem fallenden Labor.

Wir gelangen damit zur folgenden Formulierung des Äquivalenzprinzips, die nicht mehr allgemein gilt, sondern auf unsere spezielle Situation zugeschnitten ist:

Messungen von Längen und Zeitintervallen, die in einem kleinen, ruhenden Labor am Ort r im Gravitationsfeld von M vorgenommen werden, transformieren sich gleich wie diejenigen unseres frei fallenden Labors, wenn dieses entlang einer Feldlinie am Ort r vorbeifällt.

Betrachten wir die obenstehenden Gleichungen und diejenigen im letzten Abschnitt, so können wir aus ihnen die folgenden qualitativen Aussagen ableiten:

  1. Je kleiner r ist, desto weniger Zeit verstreicht dort im Vergleich zu einer Uhr im OFF. Je stärker das Gravitationsfeld ist, desto langsamer gehen die Uhren! Uhren, die im gleichen Abstand vom Zentrum von M ruhen, laufen gleich schnell.

  2. Je kleiner r ist, desto länger ist dort eine Strecke in radialer Richtung, wenn sie mit lokalen Massstäben gemessen wird. Aus dem OFF gesagt: Masstäbe verkürzen sich in radialer Richtung mit zunehmender Stärke des Gravitationsfeldes! Für die Dicke einer Kugelschale um M werden also lokale Geometer einen grösseren Wert bestimmen als ein Beobachter im OFF.

  3. Der Umfang eines Kreises um den Mittelpunkt von M wird aber von lokalen Beobachtern gleich gross gemessen wie von einem Beobachter aus dem OFF.

Der zweite und der dritte Punkt bedeuten zusammengenommen, dass für einen Beobachter im Gravitationsfeld der Durchmesser eines Kreises länger ist als sein Umfang, dividiert durch π ! Die Gesetze der euklidischen Geometrie gelten also in einem Gravitationsfeld nicht mehr. Dass der Kreisdurchmesser länger ist als nach der euklidischen Erwartung, wenn er mit lokalen Massstäben und nicht aus dem OFF bestimmt wird, wird meist folgendermassen illustriert:

 

 

Zuoberst: Es wird eine Delle gezeichnet, die wirklich die Eigenschaft hat, dass der Durchmesser, entlang der grauen Fläche gemessen, länger ist als der Kreisumfang geteilt durch π . Gern lässt man in dieser Delle dann noch als Planet ein Kügelchen kreisen,  als ob es da ein Oben oder Unten und ein zusätzliches Gravitationsfeld in z-Richtung gäbe!
Epstein schimpft schwer über diese “zutiefst irreführende Darstellung” [10-205]. Er hat natürlich Recht. Mit dieser Delle will man nur die Metrik in der Äquatorebene durch den Stern darstellen. Die Massstäbe liegen immer in dieser Äquatorebene (mittleres Bild), sie werden aber kürzer, wenn man sich der Oberfläche des Sterns nähert. Im Mittelpunkt des Sterns ist ihre Länge minimal.
Um diese Verzerrung gegenüber der euklidischen Metrik darzustellen, dehnt man diese Äquatorebene in einen ‘Hyperraum’ - ob man eine Delle nach ‘unten’ oder eine Beule nach ‘oben’ zeichnet ist dabei belanglos (unteres Bild). Diese zusätzliche zeichnerische Dimension hat mit der z-Richtung nichts zu tun. Der Wendepunkt des Querschnitts dieser Delle hat von der z-Achse den Abstand R, wenn R der aus dem OFF gemessene Radius des Sternes ist.


Wir sitzen im Folgenden meistens neben einem Beobachter im OFF, also sehr weit weg von der Masse M, an einem Ort, wo das Potential Φ(r) praktisch verschwindet. Diese leicht fiktive Position hilft uns, wenn wir die Messwerte von einem Labor im Abstand r1 in diejenigen eines Labors im Abstand r2 vom Massenzentrum transformieren wollen. Stellen Sie sich zum Beispiel ein Blinklicht vor, das am Ort r1 mit konstanter Frequenz aufleuchtet. Welches Zeitintervall misst ein lokaler Beobachter am Ort r2 mit seiner Uhr, bis er 100 Lichtblitze gezählt hat ?

Es gilt nach den Formeln zu Beginn dieses Abschnitts
∆t(r1) / √( 1 - RS / r1 )  = ∆t(∞)   = ∆t(r2) / √( 1 - RS / r2 )      und damit
∆t(r2)   = ∆t(r1) · √( 1 - RS / r2 ) / √( 1 - RS / r1 )  = ∆t(r1) · √( ( 1 - RS / r2 ) / ( 1 - RS / r1 ) )

Entsprechend gilt für kleine Längen in radialer Richtung (also in x-Richtung)
∆x(r2) · √( 1 - RS / r2 )   =   ∆x(∞)   = ∆x(r1) · √ ( 1 - RS / r1 )       etc.

(Kleine) Strecken quer zu den Feldlinien sind hingegen für alle Beobachter gleich lang.

Wir werden meistens mit unseren Näherungen rechnen:
∆t(r2) / ( 1 - α / r2 )   ≈   ∆t(∞)   ≈   ∆t(r1)  / ( 1 - α / r1 )
∆x(r2) · ( 1 - α / r2 )  ≈   ∆x(∞)   ≈   ∆x(r1) · ( 1 -  α / r1 )
oder
∆t(r2) / ( 1 + Φ(r2) / c2 )   ≈   ∆t(∞)   ≈ ∆t(r1)  / ( 1 + Φ(r1) / c2 )
∆x(r2) · ( 1 + Φ(r2) / c2 )  ≈   ∆x(∞)   ≈ ∆x(r1) · ( 1 + Φ(r1) / c2 )


Damit wissen wir genau Bescheid darüber, wie die ortsabhängigen Messwerte von Zeitintervallen und Längen transformiert werden müssen. Gönnen wir uns jetzt zur Belohnung eine kleine Rechnung: Eine Uhr soll oben auf einem 22.6 m hohen Turm in jeder Sekunde genau einen Piepser aussenden. Eine baugleiche Uhr soll unten am Fuss des Turmes stehen und die Zeit zwischen dem Eintreffen der Piepser messen. Wir wissen schon, dass die untere Uhr etwas langsamer geht. Welchen zeitlichen Abstand zwischen den Piepsern misst die untere Uhr?
Für das Verhältnis  ?t(oben)/?t(unten)  erhalten wir aus den obigen exakten Formeln den Ausdruck
√( ( 1 - 2·αE / (rE + 22.6)) / ( 1 - 2·αE / rE ) )        mit  αE ≈  4.43·10-3 m   und   rE ≈  6.373·106 m
Gibt man diese Zahlen ein, so zeigen die meisten Taschenrechnern einfach 1 ! Die beiden Werte unterscheiden sich zuwenig, als dass man bei 10 oder 12 Stellen noch einen Unterschied zu 1 sehen könnte! Die Unterschiede sind also für kleine Verschiebungen im Gravitationsfeld der Erde derart klein, dass es an ein Wunder grenzt, dass man sie schon 1960 messen konnte (Experiment von Pound und Rebka, siehe I4 ). Damit wir die Grösse des Effekts berechnen können, sollten wir also nicht das Verhältnis ?t(oben) / ?t(unten) bilden, sondern die winzige Differenz dieser beiden Zeiten ins Verhältnis zu einer der Zeiten selber setzen. Wir müssten dann etwas erhalten, das kleiner ist als 10-12.
Bestimmen wir also    ( ∆t(oben) - ∆t(unten) ) / ∆t(unten)   =  ( ∆t(r2) - ∆t(r1) ) / ∆t(r1)
Es empfiehlt sich, dabei die Näherungsformeln ohne die Wurzeln zu benützen:

Schreiben wir für die Differenz (r2 - r1) einfach ?h und bedenken wir zudem, dass wir das Resultat nur im Subpromillebereich verändern, wenn wir für  r2·(r1 - α )  einfach  rE2 schreiben, so erhalten wir das sehr einfache Ergebnis

Der Effekt ist also von der Grössenordnung 1 : 1015 und es ist daher ganz in Ordnung, dass wir ihn vorher in den ersten 12 Nachkommastellen nicht gefunden haben.

In noch vertrautere Gefilde kommen wir, wenn wir dieselbe Rechnung mit der Potential-Darstellung durchführen. Wir erhalten (ausgehend von der Näherungsschreibweise ohne Wurzel) genau wie vorher schnell den ersten der Terme in der folgenden Zeile:

Die erste Vereinfachung basiert dann auf unserer Zusatzvoraussetzung, die ja im Gravitationsfeld der Erde extrem gut erfüllt ist:  Φ(r) ist überall viel kleiner als c2 und kann deshalb als Summand im Nenner ohne weiteres weggelassen werden. Und bei der kleinen Höhendifferenz von 22.6 m an der Erdoberfläche können wir für die Potentialdifferenz im Zähler in guter Näherung  g·?h  einsetzen! Auf die Eingabe von  9.81·22.6 / 9·1016 reagiert der Rechner auch brav mit dem Ergebnis  2.46·10-15 .


Damit haben wir bereits einen berühmten Test der ART quantitativ gemeistert. Die eigentliche Kunst besteht hier oft darin, das Problem erstens so zu formulieren, dass es eine bequeme Rechnung gestattet, und zweitens in dieser Rechnung geschickte Näherungen zu verwenden, damit das Resultat numerisch überhaupt bestimmt werden kann. Weitere Beispiele werden folgen.