C1     Epsteins Mythos


1983 veröffentlichte Lewis C. Epstein sein Buch [14] “Relativity visualized”. Das Buch wurde schon 1985 vom Verlag Birkhäuser auf Deutsch herausgebracht unter dem Titel “Relativitätstheorie anschaulich dargestellt” [10]. In diesem Buch öffnet Epstein tatsächlich einen neuen, sehr anschaulichen Zugang zur Relativitätstheorie, der zwar oft erwähnt, aber kaum wirklich ernst genommen wird. In den meisten Lehrbüchern werden weiterhin ausschliesslich die Minkowski-Diagramme benutzt, wenn relativistische Vorgänge aus der Sicht zweier zueinander bewegter Koordinatensysteme graphisch dargestellt werden sollen.

Hermann Minkowski hat 1908 seine berühmte Ansprache auf der 80. Versammlung der Deutschen Naturforscher und Ärzte mit den folgenden Worten begonnen:

“Meine Herren
Die Anschauungen über Raum und Zeit, die ich Ihnen entwickeln möchte, sind auf experimentell-physikalischem Boden erwachsen. Darin liegt ihre Stärke. Ihre Tendenz ist eine radikale. Von Stund’ an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren.  ... “     [7-151]

Er entwickelte in diesem Vortrag eine konsequent vierdimensionale Betrachtungsweise des physikalischen Geschehens, indem er die drei Raumkoordinaten und die Zeit zu einem vierdimensionalen Vektor zusammenfasste und so mindestens für die Mathematiker die SRT auf eine geometrische Art und viel anschaulicher darstellen konnte. Einstein witzelte zuerst, dass er die SRT selber nicht mehr verstehe, seit sich die Mathematiker ihrer angenommen hätten; er war sich aber später im klaren, dass mit dieser Betrachtungsweise ein grosser Fortschritt erzielt worden war.

Epstein setzt mit seinem “Mythos”, auf dem er seine Darstellung aufbaut, genau an diesem Punkt an. Epstein sagt: Es scheint uns nur so, dass wir in einem dreidimensionalen Raum leben und darin unsere kleinen Ausflüge machen, die wir als Funktion der eindimensionalen Zeit darstellen können. Tatsächlich leben wir alle in einer vierdimensionalen Raumzeit. Unsere Wahrnehmung rührt daher, dass alles und alle sich immer mit Lichtgeschwindigkeit durch diese vierdimensionale Raumzeit bewegen - und diejenige Richtung, in die wir uns bewegen, nennen wir Zeit, die drei anderen, die senkrecht darauf stehen, nennen wir Raum! Dass wir diejenige Richtung, in der wir uns mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, nicht gleich räumlich wahrnehmen können wie die anderen, ist ja aufgrund der Lorentz-Kontraktion verständlich. In Epsteins Buch liest sich das so:

"Um die Relativitätstheorie auch im Bauch zu verstehen, brauchen wir einen guten, neuen Mythos. Hier ist er.
Warum können Sie sich nicht schneller fortbewegen als das Licht ? Warum Sie sich nicht schneller als das Licht fortbewegen können liegt daran, dass Sie dies auch nicht langsamer als das Licht tun können. Es gibt nur eine Geschwindigkeit. Alles, wir mit eingeschlossen, bewegt sich stets mit Lichtgeschwindigkeit. Wieso können Sie sich bewegen, wo Sie doch auf einem Stuhl sitzen ? Sie bewegen sich durch die Zeit."    [10-100f]

Die ganzen Phänomene der SRT ergeben sich nun daraus, dass sich nicht alle in die gleiche Richtung der vierdimensionalen Raumzeit bewegen! Wir wollen dies gleich graphisch darstellen, und wir werden sehen, dass diese Epstein-Diagramme, wie man sie nennen muss, die Phänomene nicht nur qualitativ richtig wiedergeben, sondern dass alle drei Grundphänomene auch quantitativ korrekt aus diesen Diagrammen herausgelesen werden können. Bei vielen Aufgaben braucht man nur etwas kariertes Papier, einen Zirkel und einen Massstab; man zeichnet das passende Epstein-Diagramm und schon kann man die Lösungen mit zwei oder drei gültigen Ziffern ablesen!