A4      Einstein durchtrennt den Gordischen Knoten


Einstein hat R und M für uneingeschränkt gültig erklärt und gezeigt, wie man N modifizieren muss, damit alles widerspruchsfrei zusammenpasst. Er hat also an den Anfang seiner Theorie, die wir heute die Spezielle Relativitätstheorie (SRT) nennen, die folgenden Postulate oder Prinzipien gestellt:

Im letzten Abschnitt haben wir gesehen, dass aus R und M sofort folgt, dass die Lichtgeschwindigkeit c in jedem Inertialsystem denselben Wert hat, mithin eine Naturkonstante ist. Im gängigen mks-Einheitensystem beträgt dieser Wert

c = 299’792’458 m/s

Das Gleichheitszeichen ist korrekt: Seit 1983 ist der Meter keine Grundgrösse mehr, sondern er ist durch diesen Wert von c und die Sekunde definiert! Die SRT liegt heute also sogar der Definition unserer Basisgrössen zugrunde! Die Absolutheit der Lichtgeschwindigkeit koppelt die Grössen Raum und Zeit in der SRT fest aneinander. Einer Sekunde Zeit entspricht eine Strecke von etwa 300’000 km Länge.

Die Kühnheit von Einsteins Vorgehen wird in vielen Lehrbüchern besungen, so auch im sehr empfehlenswerten Physikbuch [08] für Mittelschulen von Roman Sexl, Ivo Raab und Ernst Streeruwitz:

“Schliesslich trat im Jahre 1905 ein bis dahin unbekannter technischer Experte des Eidgenössischen Patentamtes Bern mit einer neuen Idee an die Öffentlichkeit. Sein Name war Albert Einstein, und sein Artikel ‘Zur Elektrodynamik bewegter Körper’ ging von der Idee aus, dass man die Erdbewegung durch den Äther vielleicht deswegen nicht messen könne, weil der Äther gar nicht existiert!”   [08-10]

Wilhelm Wien hat 1912 allerdings vorgeschlagen, den Nobelpreis für Physik zu gleichen Teilen Lorentz und Einstein zuzusprechen:

“Von einem rein logischen Gesichtspunkt muss die Relativitätstheorie als eine der bedeutendsten Leistungen der theoretischen Physik betrachtet werden. ... [Sie] wurde in induktiver Weise entdeckt, nachdem alle Versuche fehlgeschlagen waren, eine absolute Bewegung festzustellen. ... Während Lorentz als der erste betrachtet werden muss, der den mathematischen Inhalt des Relativitätsprinzips fand, gelang es Einstein, es auf ein einfaches Prinzip zurückzuführen. Man sollte daher die Verdienste der beiden Forscher als vergleichbar ansehen ...”    [07-152]

Einstein hätte dieser Darstellung sicher zugestimmt, selber hat er auch nur eine der 5 Arbeiten seines ‘annus mirabilis’ als ‘recht revolutionär’ bezeichnet, nämlich diejenige zur Photonenhypothese! Als Einstein 1921 seinen schon fast überfälligen Nobelpreis endlich erhielt, ist bei der Begründung auch jene Arbeit speziell hervorgehoben worden. Einstein hat von Lorentz immer nur mit der grössten Hochachtung gesprochen. Alle 5 Arbeiten sind übrigens mit guten Einleitungen versehen von John Stachel herausgegeben worden in [12].

 

 

Albert Einstein und Hendrik Antoon Lorentz (1921)


Für den Aufbau der SRT kann man das Postulat M auch durch die spezielle Forderung ersetzen, dass c eine Naturkonstante sei. In den folgenden Kapiteln soll nun detailliert gezeigt werden, wie sich aus dem allgemeinen Relativitätsprinzip und der Konstanz von c die SRT ableiten lässt. Zum Glück benötigt eine vollständige Darstellung der SRT nur bescheidene Mathematikkenntnisse. Wir werden dabei nicht derart zu kämpfen haben wie Kepler, der in seiner Einleitung zur “Neuen Astronomie” schreibt:
“Ich selber, der ich als Mathematiker gelte, ermüde beim Wiederlesen meines Werkes mit den Kräften meines Gehirns, indem ich den Sinn der Beweise, den ich doch selber ursprünglich mit meinem Verstand in die Figuren und den Text hineingelegt habe, aus den Figuren heraus mir in meinem Verstand wieder vergegenwärtigen will. Beuge ich der schweren Verständlichkeit des Stoffes durch eingestreute Beschreibungen vor, so erscheine ich in mathematischen Dingen schwatzhaft, und das ist der entgegengesetzte Fehler.”      [06-19]